Darmstädter Echo, 06. August 2024
Herr Siebel, Sie sitzen seit 25 Jahren im Stadtparlament. Ihnen ist da nichts mehr fremd. Oder doch?
Das Spannende an der Kommunalpolitik ist, dass immer wieder neue Themen aufkommen. Wenn mir jemand im vergangenen Jahr gesagt hätte, dass wir uns bei den Haushaltsberatungen damit auseinandersetzen müssen, die Grundsteuer B auf 1180 Punkte hochzusetzen, um aufkommensneutral zu sein, hätte ich gesagt gefragt: „in welcher Welt lebst du?“ Und wenn mir jemand vor fünf Jahren gesagt hätte, dass wir heute eine hochgradig spannende Konstellation mit einem SPD-Oberbürgermeister mit einer nicht mehr existierenden Koalition haben, hätte ich auch so reagiert.
Wie überraschend kam es für Sie, dass im vergangenen Jahr Ihr Parteikollege Hanno Benz die OB-Direktwahl gewann?
Nicht sehr überraschend, weil wir schon länger eine Abnutzungserscheinung in der damaligen Koalition wahrgenommen haben und ein Auftreten des vorherigen Oberbürgermeisters, das in der Stadtgesellschaft nicht mehr so gut ankam.
Aber Jochen Partsch ist gar nicht mehr angetreten.
Ja, aber er war die Galionsfigur der Grünen. Insofern hat uns der deutliche Vorsprung im zweiten Wahlgang sehr gefreut. Wir wussten, dass Hanno Benz, wenn er in den zweiten Wahlgang kommt, schon eine sehr reale Chance hat, gegen Michael Kolmer zu gewinnen.
Nach dem OB im vergangenen Jahr hat die Koalition durch den Austritt von Jürgen Barth (Grüne) auch noch die Mehrheit verloren. Die Zeiten sind aufgrund des Millionen-Haushaltslochs extrem schwierig. Welche Rolle spielt die SPD bei der Regierbarkeit der Stadt?
Natürlich eine zunehmend große Rolle. Wir haben bei diesen großen und schwierigen Fragen ein Gesprächsangebot an die frühere Koalition gemacht, um den Doppelhaushalt gemeinsam zu gestalten. Und wir sind bereit, auf Augenhöhe mit den anderen Fraktionen zu verhandeln. Ein genehmigungsfähiger Haushalt ist Voraussetzung, um das, was uns wichtig ist, auch umzusetzen.
Die Sachebene ist das eine, die emotionale Ebene das andere. Das Verhältnis zwischen Grünen und SPD im Magistrat wie im Stadtparlament ist erkennbar angespannt. Wie lässt sich sicherstellen, dass sich die Blöcke nicht bis zur Unregierbarkeit blockieren?
Der wahrgenommene härtere Umgang im Stadtparlament ist normales politisches Geschäft. Das ist das Herausstellen von Unterschieden, von Sichtbarkeit – und das ist auch notwendig, um den Wählerinnen und Wählern eine Entscheidungsgrundlage zu geben.
Hat diese Haltung etwas mit Ihrer Vergangenheit als Berufspolitiker zu tun?
Ich signalisiere immer allen Beteiligten, dass sie unterscheiden müssen zwischen der politischen Bühne und der Sacharbeit für die Bürgerinnen und Bürger. Und ich sage auch allen, die davon irritiert sind: Ich meine es nicht persönlich. Wenn meine politische Vergangenheit mir dabei hilft, mache ich meinen Job als Fraktionsvorsitzender der SPD im Stadtparlament gut. Das ist mein Job.
Sie stehen seit 25 Jahren in vorderster Front der Darmstadt-SPD, haben Ihrer Partei immer wieder die Kohlen aus dem Feuer geholt und sind eingesprungen, wenn niemand anders da war. Allerdings stehen Sie dadurch eher nicht für Neuanfang. Was machen Sie jetzt anders als früher?
Der Neuanfang ist schon gelungen, weil wir uns weiterentwickelt haben und weil Kommunalpolitik sich weiterentwickelt hat. Wir haben Menschen im Team aus unterschiedlichen Schichten, unterschiedlichen Alters, das ist ein Gewinn. Ja, ich habe schon oft die Kohlen aus dem Feuer geholt, aber darauf gibt es eine einfache Antwort: Ich bin Sozialdemokrat und durch und durch meiner Partei verpflichtet.
Die Darmstädter SPD-Spitze hat jüngst zwei junge Hoffnungsträger verloren. Tim Huß hat den Parteivorsitz abgegeben, Anne Marquardt den Fraktionsvorsitz – beide mit der Begründung, das zeitintensive Ehrenamt sei nicht mit ihrer Lebenssituation vereinbar. In der Fraktion hat mit Carolin Simon eine junge Frau Ihre Stellvertretung übernommen. Wie lässt sich verhindern, dass auch sie irgendwann wegen Unvereinbarkeit abspringt?
Das waren ja nicht nur Tim Huß und Anne Marquardt, sondern auch Malena Todt von den Grünen in derselben Situation. Da müssen wir viel verändern. So haben wir als SPD-Fraktion unsere Sitzungszeiten verändert. Um 19.30 Uhr kann eine Mutter mit Kind an keiner Fraktionssitzung teilnehmen, da liest sie grad eine Gutenacht-Geschichte vor. Es ist die Frage, wie kann die Stadtverordnetenversammlung familienfreundlicher gestaltet werden. Carolin Simon kann im Liebighaus den Kinderwagen nicht neben den Tisch stellen, da ist kein Platz. Wenn das so ist, müssen wir eben im Darmstadtium tagen. Das kostet Geld. Aber es ist familienfreundlich.
Das kommt auch den Rollstuhlfahrern im Parlament zugute…
…ja, die räumliche Situation im Liebighaus ist unwürdig.
Zurück zum Haushaltsloch: Wo setzt die SPD ihre Prioritäten?
Wir müssen bei den Freiwilligen Leistungen die Zuschüsse für Vereine, Sport, Kultur aber auch für Schulsozialarbeit sicherstellen. Und wir dürfen nicht bei den Investitionen zum Stillstand kommen. Wir müssen Schulen, Kindergärten, die Feuerwehr bauen, wir müssen auch ein paar kommunale Straßen angehen, die in einem verheerenden Zustand sind – nicht nur für Autofahrer. Wir legen einen Schwerpunkt auf die Stadtteile und wir müssen kluge Lösungen für das Wohnungsthema finden. Unser Parteivorsitzender Bijan Kaffenberger hat unter dem Stichwort Azubi-Wohnen eine sehr kluge Initiative ins Rollen gebracht, gemeinsam mit Gewerkschaften und Sozialverbänden ins Thema Wohnungsbau einzusteigen. Ich schließe das als AWO-Vorsitzender für Erzieherinnen und Erzieher nicht aus. Werkswohnungen wären ein Vorteil bei Stellenausschreibungen. Und ich vermisse das Thema Wohnungen für alte Menschen und generell die Frage: Was machen wir mit älteren Menschen? Ich hätte gern mehr Initiativen wie Aka55plus oder die digitalen Lotsen der AWO. Alt sein in Darmstadt bedeutet heute so viel mehr als Kaffeekränzchen.
Noch gut anderthalb Jahre bis zur nächsten Kommunalwahl: Wie werden die aussehen?
Das hängt davon ab, wie sich Grüne, CDU und Volt bewegen und auch davon, wie sich die SPD positioniert. Unser Oberbürgermeister ist viel unterwegs, macht eine sehr offene, freundliche und den Menschen zugewandte Arbeit und kümmert sich. Wir führen bürgernah nicht nur im Mund, wir handeln entsprechend unserem Motto „Darmstadt wieder für alle“. Die SPD wird bis zur Kommunalwahl mehr unterwegs sein, mehr Rundgänge und Veranstaltungen machen. Wir müssen noch fleißiger und abgestimmter werden als in der Vergangenheit, aber ich sehe uns auf einem guten Weg